WENN DIE GERSTE FÄLLT
Der Hannes und ich waren kaum aus Frankreichs Landen zurück, als die Wintergerste fiel. Die Gerste im Marchfeld ist jeden Sommer das erste Korn, das stirbt, um dem Menschen das Leben zu erhalten. Wir hatten noch das Herz und den Gaumen voll von dem Roten, den uns die schöne Chefin in der Auberge de Thorrenc serviert hatte, als wir müde von einem namenlosen Euro-Match durch den Wald der Ardèche heim gefunden hatten. Ohne GPS hätten wir das nicht geschafft, so schwachsinnig sich der digitale Pfadfinder in vorherigen Fällen angestellt hatte, in dieser kühlen Nacht bewahrte er uns vor der Obdachlosigkeit.
Das Chateau stammt aus dem 11. Jahrhundert, vor ihm endet die Straße, es wirkt unwirklich wie ein Film von Jacques Rivette, ein scheinbar willkürlich gesetztes Zeichen der Zivilisation im unbegangenen Wald. An dem ältesten Turm, der einst der Inhaftierung von Verbrechern oder vielleicht auch nur Unbotmäßigen diente, klebt eine mehrstöckige Wohneinheit, die heute als Restaurant dient. Der Hannes und ich bedauern es noch heute, der Euro in ein nahes Städtchen nachgefahren und nicht dort gegessen zu haben, fern jeder televisionären Connectedness. Aber es bleibt uns immer noch dieses Achtel Rot.
Ein paar Tage später waren wir zuhause und das Fallen der Gerste war das letzte, im ersten Augenblick unbeachtete, und im Nachhinein unmissverständliche Zeichen von Marcel Kollers Fall. Wir hatten es kommen sehen, auch auf unseren dem Geschehen mit Sorgfalt ausweichenden Wegen und ich werde nie mehr Hannes Gesicht und Stimmlage vergessen, die er angesichts von Österreichs Elend, und ich meine Armseligkeit und nicht Leid, annahm. Die ganze Wut des alten Kickers angesichts der Anmaßung einer Gruppe, den Fußball neu erfunden zu haben, stieg in ihm hoch. Gut, dass die Brüder Pastis, Pernod und Absinth nie weiter weg als ein Bitte und ein Danke an die Bar waren. Fern der Heimat braucht auch der härteste Profi manchmal ein Seelengeländer, dass er sich anhalten kann.
Wenn die Gerste einmal gefallen ist und die ersten Stoppelfelder zwischen den noch reifenden Weizen- und Roggenähren blinken, ist der Sommer endgültig angekommen. Dann geht eine EM oder WM in die entscheidende Phase und der Wiener denkt in seiner stets positiven Art schon an den herannahenden Winter. Mit Herbst gibt sich hier keiner ab, Herbst ist so eine Sache, die man mitnimmt, unvermeidlich wie die heimische Bundesliga, aber keiner eigenen Beachtung wert. Eine Zwischenzeit, von Sommer und Winter eingeschoben, zur Vorbereitung, zum Luftholen, zur Distanzierung von der Wirklichkeit. Insofern ist das ÖFB-Team jetzt in seinem Herbst angekommen, bis zum Beginn der WM-Qualifikation (5. 9. Georgien – Österreich, Tiflis) hat es Zeit, sich dafür zu entscheiden, ob nun der Winter kommt.
Was bleibt von dieser Reise um den Hochsicherheitstrakt eines modernen Mega-Events herum ist das Schimmern der Platanen in den Alleen der Provence, das Sirren der hitzegetränkten Luft über den Getreidefeldern. Die knotigen Knochen der uralten Weinreben mit den hellgrünen Blättern und das Rascheln der im Unterholz verschwindenden Kreuzotter. Das Licht im Swimming Pool in Pertuis und das alte Amphitheater in Orange gegenüber der Bar. Der See von Verdon mit seinem Kieselstrand, die Bungee Jumper auf einer Brücke des Gorges (Schlucht) und die Lavendelfelder, die aussehen wie zigtausende violette, in ordentlichen Reihen eingeschlafene Stachelschweine. Der Greis, der in Valensole fünf Minuten von der Bar über die Straße brauchte und mit seinem Peugeot davonglühte. Hannes‘ vor Zorn zitternde Stimme, wenn er über die Niedertracht räsonnierte, die alten Kicker für Trotteln und die heutigen für Propheten zu halten.
UInd wenn ich wieder ein Spiel der Euro und die Kommentare dazu nicht aushalte, setze ich mich in meinen alten Mercedes, mach alle Fenster zu und atme ein paar Mal tief ein. Die Lavendelblüten werde ich lange nicht aus dem Auto saugen und ich muss mir ein Rezept für die Creme Cassis besorgen. Nach der WM-1998 kannte ich das auswendig. Aber wie der alte George Harrison nach der Trennung von den Beatles schon sagte und wie die Fußballtrainer sagen: „All Things Must Pass.“