Eliud Kipchoge lief am 12. Oktober in der Früh 42,195 Kilometer in 1:59,40,2, das war toll und wird für ihn, seinen Sponsor INEOS und die Stadt Wien Folgen haben
Ein „Weltrekord“ wie die „Presse“ sofort nach dem Ende des Events auf Seite 1 verkündete, war es halt doch nicht. Eliud Kichoge lief am Samstag Morgen zwar die Marathondistanz in 1:59,40,2, und also schneller als jeder andere Mensch bisher. Aber ein „Weltrekord“ setzt einen Wettbewerb unter klar definierten Umständen voraus, und das war das von vielen Wienern bejubelte Spektakel nicht.
Die vom britischen INEOS-Konzern mit geschätzt 30 Millionen Euro gekaufte Sause war ein Marketingartikel, eine Lehre für die Menschheit, dass „NoHumanIsLimited“, ein „Beweis“, dass Schuhe und anderes Klimbim Läufer schneller machen, ein Beweis für die Flexibilität der Wiener Stadtverwaltung, die binnen drei Monaten das Ereignis möglich machten, eine geradezu unbezahlbare, unfassbare, globale, nachhaltige Werbung für den Wien-Marathon 2020, ein zynisches Pseudo-Experiment mit einem Menschen und eine grandiose psychisch-physische Leistung des kenianischen Marathonläufers Eliud Kipchoge, der so locker ins Ziel rannte, als käme er von einer ausführlichen Spazierrunde heim und gestikuliere der Frau, er habe Hunger.
Aber ein Weltrekord war es nicht.
Der Weltverband der Leichtathletik ist auch schuld an der missbräuchlichen Verwendung des Wortes Weltrekord. Früher setzte ein solcher vergleichbare Umstände von Wettkampfort zu Wettkampfort voraus. Bestzeiten im Marathon und anderen Disziplinen, wo die Vergleichbarkeit fehlte, nannte man „Weltbestzeiten“. Aus Marketinggründen, so die wahrscheinichste Annahme, bezeichnete man irgendwann auch Marathon-Rekorde als „Weltrekorde“. Sowas lässt sich halt besser verkaufen, ist sofort verständlich und passt in unsere rankingsüchtige Zeit.
„Ich bin der glücklichste Mensch der Welt“, sagte Kipchoge nach dem Lauf. Sein Sponsor Jim Ratcliffe, Mitbesitzer des Sponsorunternehmes INEOS und einer der reichsten Briten, nannte ihn „geradezu übermenschlich, wie er den letzten Kilometer gelaufen ist“. Das war in der Tat eindrucksvoll. 41 Kilometer lang war Kipchoge von 7 Pacemakern umgeben, die alle fünf Kilometer wechselten. Lauter Welt- und Europameister sowie Rekrodhalte über die Langstrecke und Mittelstrecke. „Die besten Läufer der Welt“ sagte der große Sieger Ratcliffe. Er profitiert von dem Ereignis am meisten, nun ist INEOS die gute Firma, die Kipchoge auf dem Weg zur Predigt von „NuHumanIsLimited“ half, und nicht die Firma, die pro Jahr mit der Verarbeitung von Gas und Kohle rund 40 Milliarden Euro umsetzt. Ratcliffe ist ein Wohltäter, der die Menschen an ihr Potential erinnert, und er ist mit seinen zig Milliarden Euro Privatvermögen ja auch ein gutes Beispiel dafür.
Sportswashing nennt man das, Konzerne und Staaten wie Katar krallen sich Sportler oder Wettkämpfe und gerieren sich dadurch als Beförderer des Leistungs- und Chancengleichheitsgedankens. Ob das Anbeten des Prinzips von „immer mehr“ die Menschen glücklicher und den Planeten lebenswert macht, wird natürlich nicht diskutiert. Das schreibt uns der heilige Jim Ratcliffe einfach so vor.
Könnte es sein, dass das Ereignis im Prater an neokolonialistische Abläufe erinnert? Die billigen Arbeitskräfte kommen aus Afrika, die großen Profite bleiben in Europa. Auch der Hochleistungsfußball bedient sich bei der Rekrutierung seiner Nachwuchskicker noch der alten kolonialistischen Wege, nach Frankreich oder England kommen nicht nur aber zu einem erklecklichen Teil Kicker aus den alten Kolonien. Zinedine Zidanes Familie ist so ein Beispiel, seine Eltern wanderten aus Algerier nach Frankreich aus. Kenia, Kipchoges Heimat, erlangte 1963 die Unabhängigkeit von Großbritannien, Heimat des INEOS-Konzerns.
Das mag Zufall sein, die Inszenierung verstärkt freilich die Vermutung, hier gehe es um als richtig propagierte Dinge, die nicht mit rechten Dingen zugehen.
Laufen als Privatvergnügen, als Sucht, aus Mangel an anderen Interessen oder für die Gesundheit ist eine Sache. Was Kipchoge und Seinesgleichen machen ist Big Business. Hier handelt es sich nicht um ein Experiment mit einem Läufer und um den fadesten Marathon aller Zeiten, wie der Leichtathletiktrainer Wilhelm Lilge anmerkt. Hier sehen wir wie in einem Labor den Mutationssprung von Sport zum Büttel des Geschäfts. Dafür braucht es spektakuläre Anlässe und Leistungen wie den eben-nicht-Weltrekord von 1:59,40,2, zur Ablenkung und Bemäntelung.
Auch all die „wissenschaftlichen“ Untersuchungen über Verlust und Gewinn von Sekunden durch Kurven, Wind und schützende Mitläuferwand sind Ablenkungen. Das Spektakel nimmt all das aus dem Sport mit und zeigt es her: Seht, ich bin Sport, da Experten und Medien mich wie Sport behandeln. Der historische Moment besteht also nicht in der Markierung einer Bestzeit. Die ist hier nur ein Popanz, denn im sportlichen Lauf gilt sie als ultima ratio. Dort ist sie allerdings das Ergebnis eines komplexen Ablaufs, an dem Konkurrenten, unfrisierte Bedingungen von Ort, Zeit und Wetter, Wettkampfkalender und andere dem Sportbetrieb eigene und unverhandelbare Eigenschaften teilhaben. Hier wurden sämtliche Bedingungen manipuliert und gleichzeitig wird behauptet, die Zeit spiele dieselbe Rolle wie drüben bei den Sportlern. Natürlich musste Kipchoge laufen, aber er hatte Hilfe, die in allen anderen Umständen als unfair und disqualifizierend angesehen würden.
Hier kann man also fragen: was ist diese Zeit wert, wenn alle anderen Umstände so leicht gemacht wurden? Was ist übrigens mit Dopingtests? Hat sich Kipchoge der Dopingkontrolle unterzogen?
Die Inszenierung erinnert ein wenig an die Hilfe, derer sich Marcel Hirscher viele Jahre lang erfreute. Vielleicht ist eine andere, längere Marathonzeit als die Kipchoges aus dem Prater mehr wert, weil sie unter schwereren Umständen erreicht wurde? Vielleicht zeigt eine Zeit über 2:00 viel deutlicher, wozu ein Mensch fähig ist, weil sie gegen schwierigeres Geläuf, unangenehme Gegner und in Hitze oder Wind erbracht wurde? Was ist Kipchoges Zeit wert, wenn die ihm gewährten Umstände nicht wiederholbar sind? War das vielleicht gar nicht Kipchoges beste Leistung jemals?
Alles wurscht, die Marketingmaschine läuft, und das ist das Wichtigste. Wien ist nun bis ewig die Stadt des Marathon-Weltrekordes. Der Veranstalter des Wien-Marathons, Wolfgang Konrad, hat mitgeholfen, dass Kipchoge in Wien läuft und den bestmöglichen Werbecoup gelandet. Vielleicht merkt nun sogar die Stadt Wien, die ihn bisher eher stiefmütterlich behandelte, was sie an ihm hat. Bürgermeister Michael Ludwig war an Ort und Stelle, gratulierte Kipchoge und Konrad und scheint begriffen zu haben, welches Marketingpotenziel in der imagemäßigen und touristischen Verwertung dieses Ereignisses liegt.
Wien ist plötzlich die Stadt der Bestleistung, der Anstrengung und des mühelosen aber befriedigenden Schwitzens. Der Heurige hat einen asketischen Bruder bekommen.
Das Ereignis ist also ein Beispiel, das uns zeigt, wie unsere Welt heute funktioniert. INEOS ist ein großer Konzern, der Dinge produziert, die jeder irgendwann irgendwo, wahrscheinlich unwissentlich, verwendet. Ich weiß nicht ob er gut oder böse ist, unsympathisch war er mir bisher auch nicht, weil ich ihn gar nicht gekannt habe. Jetzt kennen seinen Namen ziemlich viele und möglicherweise ist sein Image kurzfristig ein gutes, allerdings wissen jetzt auch alle Interessierten, dass INEOS mit fossilen Rohstoffen produziert.
Ich hab das Spektakel miterlebt und bin ein paar km mit dem Rad daneben mitgefahren und das Tempo und die Stimmung so mitzubekommen war schon eindrucksvoll. Der Prater war ja immer schon ein Ort für Spektakel und hin und wieder ein Spektakel, finde ich, braucht eine Stadt.
Der Slogan NuHumanIsLimited weist uns darauf hin, was von uns erwartet wird: mehr Leistung! Warum? Weil es dann eine bessere Welt geben wird, habe ich heute gehört. In den letzten Jahren hat sich aber eher gezeigt, dass dieses „nie genug“ uns keineswegs glücklicher macht und dass der Planet beim Überschreiten von Grenzen unangenehme Reaktionen zeigt.
Gut, es war vielleicht anders gemeint, No Limits im Guten, aber wo ist genau die Grenze zwischen Gut und zuviel des Guten?
Darüber könnten wir länger als 1:59 diskutieren.
Und was hat Kipchoge jetzt genau mit der „Hilfe, derer sich Marcel Hirscher viele Jahre lang erfreute“ zu tun? Der hat meines Wissens nach auf echten Pisten gegen echte Gegner gewonnen…
Pingback: 1:59:40 und was jetzt? - Nicola Werdenigg
„Wien ist plötzlich die Stadt der Bestleistung, der Anstrengung und des mühelosen aber befriedigenden Schwitzens“
ist das dort, wo morgens nur die kids aufstehn, um in die schule zu gehen und alle anderen zu faul sind zum arbeiten und weiterschlafen?
besonder ärgerlich finde ich diese roten bodenmarkierungen, die auch auf dem verkehrsüberlasteten Praterstern zusätzlich irritierend verwirren. ein irrer aufwand, den offenbar die StadtWien beisteuerte (?).