NOTIZEN VON EINER REISE NACH FRANKREICH
Ich habe mein Bücherregal abgewischt und ein fast leeres Notizbuch gefunden. Meine Schwiegermutter hat es mir vor ein paar Jahren geschenkt. „Damit du was Schönes zum Schreiben hast“, hat sie gesagt. Sie liebte Bücher, gute Zeitungen, alles gut Geschriebene und ich bin heute noch gerührt, dass sie mich damit irgendwie in Beziehung setzte. „Spätlese Das Notizbuch“ steht vorne auf dem Notizbüchl. Unter dem Titel ist eine Bleistiftzeichnung. Ein lang geratenes Küken kuckt aus einer länglichen Wabe, deren oberster Teil nach hinten geklappt ist und wie eine Kapuze ausschaut. Ein Wabenküken mit Kapuze.
In ein paar Tagen fahre ich nach Frankreich, ich schau mir das Drumherum der Europameisterschaft an. Das Notizbüchl begleitet mich, Aufschreiben und Herumfahren sind zwei Wochen lang eine Live-Parallelaktion. Auf den ersten Seiten des Büchls steht eine Idee für einen Fußballfilm. Ziemlich unbrauchbar, wie mir scheint. Ich kann mich erinnern, dass ich mich damals verpflichtet gefühlt habe, in das Geschenk der Schwiegermutter was Gscheites zu schreiben. Schöne Schreibgeräte erzeugen einen Sog, und Unvorsichtige wie ich geben ihm nach. Ich kann mich an einen Kollegen erinnern, der spielte mit teuren Kugelschreibern und Füllfedern herum. Er konnte zwar kaum einen geraden Satz schreiben und war kaum zu bewegen, eine Geschichte zu recherchieren, aber er war süchtig nach dem Kick, den der Besitz von edlen Federn erzeugt. Auch hielt er sich selbst für eine edle Feder, wie es angeblich viele in Österreich gibt.
Die Edelsten der Edelsten erhalten dann von einer Jury einen Preis. Das ist eigentlich ein Titel, denn er bringt kein Geld, ja nicht einmal Anerkennung in der eigenen Redaktion. Bei kritischer Betrachtung, die freilich Journalisten über ihre Arbeit und Umstände nie zulassen würden, geht der Titel reihum von einem Verlag zum nächsten. Jeder kommt binnen weniger Jahre dran, und die den Preis vergebende Zeitschrift, eine hagiographische Ausstülpung des Journalistenbusiness, argumentiert mit der Aktion ihre Position in der Medienlandschaft.
Das Notizbüchl werde ich in einigen Jahren lesen, wenn die Euro längst Nostalgie und die Enttäuschung, nicht Europameister geworden zu sein, abgeflaut ist. Vielleicht geht es mir dann so wie heute, wenn ich an die WM 1998 denke. Der Hannes und ich sind vier Wochen durch Frankreich gegondelt. Vorbei an Wassertürmen, Lavendel- und Cabernet Sauvignon-Feldern. Die ersten zwei Wochen drehten wir um das Medoc-Städtchen Margaux, wo die Österreicher wohnten und trainierten, unsere Runden. In der Kantine des Fußballplatzes hatten die Winzer eine Vinothek eingerichtet, für die jeder österreichische Weinbauer gemordet hätte. Eine Gruppe ungebildeter Sportjournalisten ließ sich dort in die Anfangsgründe der Bordeaux-Weine einführen. Das ÖFB-Team schied dennoch glanzlos nach den Gruppenspielen aus. Auf Teamchef Herbert Prohaska hatte der genius loci keine Wirkung, er blieb stur bei seiner Wahl den nicht fitten Andreas Herzog und den außer Form befindlichen Anton Polster aufzustellen.
Die Tagebucheintragungen werden das Notizbüchl füllen aber dennoch unberührt lassen. Das Büchl nimmt vorübergehend eine zweite Gestalt an, die Homepage. So dient es auch dem zweifachen Zweck, private Eintragungen einer kleinen vielleicht interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das ambivalente Gemeinsame scheint überhaupt ein Thema dieser Reise und ihrer Beschreibung zu sein. Hannes und ich, zwei alte Sportreporter, schauen sich nach 18 Jahren die Stätte ihrer Untaten an. Frankreich hat 1998 nach mühevollem Beginn in einem furiosen Finale die Brasilianer 3:0 geschlagen. Das ganze Land war wie in Trance, keine Spur von Terror oder Streik. Das Land war im Einklang mit sich und nahm sich einen Monat Zeit für eine hysterische Unnötigkeit.
Die Zeiten sind härter, die Franzosen haben ihre Lockerheit verloren. Vor der EM versucht die französische Regierung, eine Arbeitsgesetzreform durchzudrücken, die Gewerkschaften legen unsportlicherweise das Land lahm. Jeden Tag interviewt eine andere Zeitung einen anderen Terrorexperten, der zugeben muss, dass Terroranschläge in Frankreich auch während der EM nicht ausgeschlossen werden könnten. Das trägt alles zu einer ungeheuren Vorfreude in einer Zeit bei, in der die von der Wirtschaftskrise, Rechtspopulisten, Kabarettisten und Trottelzeitungen bis an den Rand der Erschöpfung strapazierten Leistungsträger eine Erholung, ein Monat hysterische Unnötigkeit, brauchen könnten.
Der Hannes und ich wollten nicht nach Frankreich fahren, wir haben uns oft genug in solchen Hot Spots der Aufgeregtheit aufgehalten. Die Euro 2000 in Belgien und den Niederlanden war eine einzige Nervenprobe. Auch wegen der Lamentiererei von Lothar Matthäus, der einen fußmaroden, 20 Meter hinter der Verteidigung wartenden Libero gab und nach dem Match allen anderen die Schuld für die erbärmlichen Vorstellungen gab. Die Deutschen waren damals so hinich, das ssie soagr gegen die Engländer (0:1) verloren und (1:1 gegen Rumänien, 0:3 gegen Portugal) nicht einmal ins Viertelfinale aufstiegen.
Der Hannes und ich haben uns das Spiel der Deutschen gegen die Rumänen angeschaut. Das Stadion war irgendwo am Rande von Liege, kein Hinweisschild, keine Parkplätze in der Nähe, die organisatorische Idiotie der Belgier war notorisch. Ein mehrere Kilometer langer Anmarsch in sengender Hitze, weil die belgische Polizei das Stadion aus hysterischer Angst vor Terroranschlägen weiträumig abgesperrt hatte. Das ganze Land wirkte trotz der Euro wie unter Schlafmittel, während auf der anderen Seite der Grenze in Holland angeblich eine Euro-Partie abging. Wir haben damals beschlossen, nie mehr freiwillig nach Belgien zu fahren und haben uns bis jetzt daran gehalten. In Brüssel haben wir die matschigsten Pommes Frittes unseres Lebens gegessen. Brüssel sehen und sofort wieder verlassen, kann ich nur sagen, wenn ich auch zugeben muss, dass die dort größere Sorgen als fettige Erdäpfelspalten haben.
In einer Woche fahren wir nach Frankreich, in die Provence, das ist so ungefähr das Burgenland Frankreichs, sagen mir Frankreich-Auskenner. Wenn die EM nicht wäre, könnte das richtig entspannt sein, zehn Tage Hügel und Lavendelfelder und Rotwein und Weißwein und Baguettes und kein Wort verstehen. Wenn die EM nicht wäre, würden wir aber auch nicht fahren, also nehmen wir sie als unvermeidlichen Anlass, um dessen Geschehnisse wir uns herumdrücken werden, so gut es geht.
Ich werde mir vorher wieder einmal „Les Yeux dans les Bleus“ anschauen. Davon kursieren mehrere Versionen im Internet, ich habe eine Kinofassung, glaube ich, auf DVD. „Les Bleus“ ist die Bezeichnung für das französische Nationalteam, seiner blauen Trikots wegen. Der Film zeigt den Weg des Teams von der Vorbereitung bis zum Finale gegen Brasilien. Eine Version beginnt mit in der Kabine, Zinedine Zidane wird verarztet, er hat sich bei einem Vorbereitungsspiel gegen eine Auswahl des Südens von Frankreich verletzt. Ich liebe diesen Film fast, soweit man Filme über Fußballturniere lieben kann. Im Vergleich zu dem törichten deutschen Streifen über das „Sommermärchen“ (mit dem unerträglichen Lied „Der Weg wird kein leichter sein“) des unsäglichen Xavier Naidoo.
Er zeigt die Arbeit, die Schmerzen, Sehnsüchte und die unbändige Freude und Leidenschaft in dieser Mannschaft. Aimé Jacquet, der Trainer, erklärt ihnen, dass der Weg bis zum Ende über die totale Hingabe führe. Und Zidane, der während des Turniers ausgeschlossen wurde, führte die Mannschaft schließlich zum Titel. Im Finale erzielte er zwei Tore gegen die Brasilianer, das dritte steuerte Kollege Petit bei, und zeigte sich dem großen Augenblick gewachsen. Ein dünner, entschlossener Franzose mit Mönchsglatze. Wir waren damals im Stadion, zu dieser Zeit war das noch möglich, dass zwei Journalisten einer völlig unbedeutenden Nation für so ein Spiel Karten erhielten. Damals schickten österreichische Zeitungen noch Journalisten auf wochenlange Reisen nach Frankreich oder nach Las Vegas zu einem WM-Boxkampf. Wir hatten Platz und Freiheiten, das Internet und ahnungslose Manager haben seither das Selbstvertrauen der Zeitungen zerstört und die Redaktionen ausgeblutet. So ist unsere Reise auch in dieser Hinsicht ein Abschied von einer guten, vielleicht auch sentimentalisch verklärten Zeit, ein Abschied von einem Teil unserer Geschichte, die wir immer wieder neu schreiben und ich bin schon gespannt, wenn auch nicht sehr, wie sich David Alaba, das ÖFB-Team und Marcel Koller in Frankreich schlagen werden. Ich hoffe auf das Beste, schon um die Besserwisserei im Internet und auf den Kabarettistenbühnen zu vermeiden. Jedoch macht die Mannschaft den Eindruck, als sei sie zumindest in dieser Zusammenstellung ohne guten Stürmer und Tormann am Plafond ihres Leistungsvermögens angekommen.
Wir werden uns das in einem Provence-Dorf geben, Österreich – Ungarn, die alte Donaumonarchie und die Nachkriegsgeschichte von Kommunismus bis Wirtschaftswunder, der totalitär angehauchte Orbanismus gegen die Kern-Euphorie, zwei Auslegungen von Mitteleuropa in handliche 90 Minuten gepackt. Und vor uns zwei Gläser kalten Chablis, außen Wasserbeschlag. Es kann aber auch Pastis sein, und ziemlich sicher ein Packerl Gauloise, schwarzer Tabak, wie früher, wenn auch nicht mehr die sans filtre, wir werden auch nicht jünger.