Mehr als ein Skirennen

Der Skiweltcup erlebt an diesem Wochenende den Auftakt mit zwei Riesentorläufen in Sölden. Nach Anna Fenningers Unfall und dem vorhergegangenen Rücktritt mehrerer Leistungsträger wie Katrin Zettel, Marlies Schild und Niki Hosp ist das Damenteam des ÖSV wie erwartet praktisch wehrlos. Nun droht auch noch das IOC die  Olympiaabfahrt aus dem Programm zu nehmen. Die FIS sagte erst nichts, will sich jetzt wehren. ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel verlangt Reformen. Doch der Anschlag auf eine Kulturtradition ist nicht ausgestanden. Denn die Verantwortlichen für die Fehlentwicklungen des Skirennsports wursteln weiter.

Das Internationale Olympische Comitee IOC denkt daran, die Olympiaabfahrt abzuschaffen. Auch wenn man jetzt beflissen dementiert. Die Abfahrt ist zu teuer, zu uninteressant für Fans und TV-Sender. Das ist nichts weniger als ein mit wirtschaftlichen Argumenten bemäntelter Anschlag auf eine Kulturtradition. Doch das scheint niemanden zu kümmern. Ein Indiz dafür, dass der Skirennsport im Allgemeinen und die „Königsdisziplin“ Abfahrt im Speziellen keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken?

Selbst ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel meint, die Abfahrt gehörte halt reformiert. Zwei Durchgänge, eine anderen Startreihenfolge und ein „Qualifying Training“ wie in der – auch mit Fadesse kämpfenden – Formel 1. Dann würde auch die Abfahrt im Fernsehen bessere Einschaltquoten bringen. Kein Wort davon, dass der Skirennlauf der Abfahrt sein Charisma verdankt. Nur die Abfahrt brachte Männer hervor, in deren Sog sich das Land vor dem Fernseher versammelte. Slalomspezialisten? Ja, auch gut, aber zu feig für das echte Ding.

Hier sei nur die Dreifaltigkeit des österreichischen Winters erwähnt: Toni Sailer, dreifacher Olympiasieger 1956 in Cortina d’Ampezzo und Integrationsfigur der Wiederaufbauzeit. Franz Klammer (1976), der Sonnyboy und Repräsentant des Emanzipationsprozesses, der den Skisport von einer Naturliebhabertätigkeit in ein Element der Freizeitgesellschaft verwandelte. Und Hermann Maier, der 1998 auf einem japanischen Berg in der Olympiaabfahrt in den Tod und wieder zurück flog und wenige Tage später den Super G und den Riesenslalom gewann. Maier verkörpert den sportiven, ich-zentrierten Aufsteiger des beginnenden 21. Jahrhunderts.

Das IOC will Kosten senken und das Programm der Winterspiele vom Ballast traditioneller, unattraktiver Sportarten säubern. Den freien Platz besetzen Trendsportarten. Für das IOC sind Winterspiele ein Nebengeschäft. Viele sauteure Einrichtungen wie Bob- und Rodelbahn, Skisprungschanzen und Speedstrecken für Abfahrt und Super G. Und bloß acht TV-Stationen wollen die Übertragungsrechte für eine Olympiaabfahrt kaufen. Aber 40 Sender erwerben die Slalomlizenz.

Das IOC ist auf die TV-Lizenzen angewiesen, sie machen rund 75 Prozent der Einnahmen aus. Schröcksnadels Reformvorschlag bringt das Problem auf den Punkt. Allerdings ganz anders, als er das meint. Nicht die Abstinenz der TV-Sender oder die mangelhafte Anpassung an deren Dramaturgie ist das Problem, sondern die Verwahrlosung und Fehlentwicklung des Skirennsports durch FIS- Funktionäre wie Schröcksnadel.

Heute wird der Abfahrtslauf (und der in vielen Fällen von der Abfahrt kaum zu unterscheidende Super G) auf glattgewalzter Rennbahn ausgetragen. Die Abfahrer gleiten dahin, ob sie 60 oder 120 km/h fahren ist kaum zu unterscheiden. Der Kampf des Athleten mit den objektiven Schwierigkeiten reduziert sich im Wesentlichen auf Hocke-Fahren und das Überleben einiger Kurven. Die Streif in Kitzbühel (und das Lauberhorn in Wengen) bieten noch morphologische Tücken. Daher sind sie auch beim Publikum beliebt. Denn dort „sieht und spürt“ man das Ringen des Athleten mit Geschwindigkeit, Balance und Fliehkraft.

Die glatte Schneeunterlage soll die Piloten sicher ins Tal bringen. Damit das Unterfangen aber nicht zu leicht gelinge, werden die Pisten vereist. Auf den Eisplatten braucht man harte Latten mit rasiermesserscharfen Kanten. Damit diese Waffen die Pisten nicht zerfleischen, werden diese noch härter gemacht. Um Serientodesfälle zu vermeiden, werden die Pisten breiter und alle Wellen niedergebügelt. Die Skifirmen kontern mit noch schärferen Skiern. Ein Teufelskreis, den Skiindustrie und Veranstalter diktieren. Die FIS war ein willfähriger Passagier, solange die Sponsoren und TV-Stationen Schlange standen.

Interessanterweise hat die Entwicklung des Materials (Carver-Ski!) und der Pisten dem Slalom genützt, er mutierte zum Gegenstück des Hochseilakts im Zirkus. Doch das Charisma der Abfahrt, der fliegenden Männer im Zirkuszelt, ist für ihn unerreichbar. Die Abfahrt ist die höchste Stufe der skifahrerischen Artistik, leider wurde die zu ihrer Beherrschung notwendige Kunstfertigkeit pervertiert und ihr Anforderungsprofil von Bürokraten retuschiert.

Die Fehlentwicklung hängt wahrscheinlich mit der fehlenden kulturhistorischen Bildung der Funktionäre und ihrem Unvermögen zusammen, dem Druck der Industrie Argumente entgegen zu setzen. Der ÖSV führt gern das Wort von der Bedeutung des Skisports für „Österreich“ und den „Tourismus“ an. Doch das komplexe kulturelle Gewebe des geliebten Sports opferten die Funktionäre dem janusköpfigen Popanz unserer Zeit, der Maximierung von Gewinn und Geschwindigkeit.

Das symbolische Kapital des Skisports ist beinahe aufgebraucht. Seine Zinsen stehen auf einem All-Time-Low. Das Herzstück, die Abfahrt, droht aus dem olympischen Programm zu fallen. Hier geht es nicht um billige, oberflächliche Adjustierungen, wie die Anbiederung an die Dramaturgie der Fernsehübertragung. Wenn die Abfahrt fällt, fällt auch der Rest des Skisports in den Status eines Büttels der televisionären Event-Kultur. Der Traum, jemals wieder einen Skirennfahrer zu erleben, der mehr zu bieten hat als Siege in Skirennen, wäre ausgeträumt.

Die „Reformvorschlägen“ zeigen, dass Skifunktionäre als Erbbewahrer einer diffizilen Kulturtradition ungeeignet sind. Skifahren entwickelte sich zu einem Ausrüstungsmonster, das selbst Freizeitskifahrern auf glattgewalzten Pisten Held und Rückenschutz aufdrängt, um sich vor eigener und fremder Raserei zu schützen. Vom Musikantenstadel mit seinen Plastikmelodisten geht es direkt in den Skistadel mit seinen Plastik-Skifahrern.

Und wer garantiert denn, dass das IOC nicht bloß das Programm entschlacken, sondern die Winterspiele nicht überhaupt entsorgen will? Schon finden sich kaum mehr Bewerber. Die Spiele 2014 in Sotschi leistete sich Russlands Präsident Wladimir Putin als Propagandaevent Er zahlte angeblich rund 50 Milliarden € für die Spiele. Ungeheure Summen sollen beim Bau der Wettkampfstätten versickert sein, zwangsweise Umsiedlungen und krasse Umweltsünden bei der Errichtung von Pisten und Skiliften erregten weltweit Proteste.

Gegen die Abfahrtsstrecke der Winterspiele 2018 in Pjöngjang hagelt es Proteste von Umweltschutzorganisationen. Für die Austragung der Winterspiele 2022 hatten sich nur mehr die autoritären Regimes von China (Peking) und Kasachstan (Almaty) beworben, Peking erhielt den Zuschlag. In der Region dort ist Schneefall so häufig wie der spontane Wuchs von Palmen in St. Anton am Arlberg. Die Abfahrtsstrecke hat nicht einmal die von der FIS vorgeschriebene Höhendifferenz.

Der Kampf um die Abfahrt signalisiert ohne jeden Zweifel eine tiefe Krise des Wintersports. Will das IOC das ungeliebte, wenig lukrative Wintergeschäft mittelfristig loswerden? Das wäre ein Misstrauensvotum des IOC gegen die ihm anvertraute Kulturtechnik und damit auch ein Misstrauensvotum gegen sich selbst, den wichtigsten Agenten des Sports. Nicht die Abschaffung ist die Lösung, vielmehr die Redimensionierung der Winterspiele und die Befreiung von Geschwindigkeitswahn und verlogener Sicherheitsideologie.

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2 Antworten zu Mehr als ein Skirennen

  1. frizzdog schreibt:

    könnte aber eine ganz banale erklärung haben:
    die TV-Abfahrtslizenzen sind aufgrund des erheblichen aufwandes viel teurer als die TV-Slalomlizenzen.
    und da die mehrzahl der zuschauer weltweit keine ahnung vom schifahren und schon gar nicht vom kulturellen hintergrund hat, siegt das billigere.
    es erinnert etwas an die pervertierende bewertung von wirtschaft durch den „shareholder-value“.
    ANDERERSEITS muss man vielleicht froh sein, dass dieser knie und bänderzerreißende abfahrtswahnsinn auf umwegen eingebremst wird.
    persönlich trauere ich der klassischen VIERERKOMBINATION aus Abfahrt, RTL, SL und Sprunglauf nach, die sich im studentensport und in der Schweiz noch lange erhalten hat.

  2. frizzdog schreibt:

    a propos „SCHISPORT-REFORM“…:
    ich hab einmal im rahmen meiner arbeit bei der FIS in den 80er-jahren einen parallelslalom an der chinesischen mauer bei Peking vorgeschlagen. die europäer hielten mich für verrückt.
    dabei hat es dort sehr tiefe temperaturen, genug wasser und gute hänge, man käme ohne stahlgerüste wie in Moskau aus….
    dafür lud man die staunend-kopfschüttelnden chinesen zur streif-abfahrt ein, wo sie dann gleich vor ort beschlossen, ihren schifahrern sicher niemals diese disziplin nahezulegen 🙂

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