Es sind nicht die abgenagten, ausgelutschten Worthülsen. „Wir“ beispielsweise verwenden Kolumnisten und Meinungsschreiber gern als Klammer, um das Land und sich selbst oder zumindest „ihre“ Zeitung zusammenzuspannen. Der global „wir“-kende Großkolumnist Thomas L. Friedman schrieb Anfang April in der International Herald Tribune über ein „Zeitfenster“, das „we wasted“. Russland und China seien drauf und dran, die USA zu überholen. „We“, die USA und Friedman, könnten eines Tages gefragt werden, warum sie beim Wiederaufbau der US-Wirtschaft Zeit vergeudet und das Wohl der ganzen Welt aufs Spiel gesetzt haben. „Wir sind kurzsichtig“, resümiert Friedman. „Sie sind richtig schädlich.“ Die Schädlinge: Russland, China, Iran, Syrien.
In seinem Buch „That Used To Be Us“ (2011) breitete der dreifache Pulitzer-Preisträger Friedman seine Bedenken aus, mit der globalen Dominanz der USA könnte es demnächst vorbei sein. Das wäre „richtig schädlich“, nicht etwa ein mit Lügen und von einem US-Präsidenten angezettelter Krieg der Weltschutzmacht. Die Unternehmen in den USA verfügen leider nicht über ausreichende Bewegungsfreiheit, um das Land genesen zu lassen. Zu viele Vorschriften, zu hohe Steuern, zu viele hinderliche Gewerkschaften, meint Friedman. Und die Administration, diese drückende Bürde des freien, demokratischen Unternehmertums!
Die Gleichsetzung von US-Interessen mit dem Wohl der Erde erinnert an Friedmans Buch „The Lexus And The Olive Tree“ (1999), in dem er Wirtschaft und Demokratie geradezu als Synonyme verwendet. Er faselt darin in einer von Entzücken erfüllten Sprache von der „Demokratisierung der Finanz“, eine rapide zunehmende Anzahl von TV-Kanälen werde zudem die Information „demokratisieren“. Wie demokratisch die Finanzwirtschaft geworden ist, hat man ja an der Weltwirtschaftskrise 2008 gesehen. Kurzum: die Globalisierung der Märkte werde die Welt von allen Übeln der Armut und Ungleichheit heilen.
An diesem Punkt erhebt sich die Frage, warum der Steuerfachmann und Unternehmer Frank Stronach nicht in die US-Politik eingestiegen ist und sich mit Lächerlichkeiten wie Tiroler Landtagswahl und Österreichs Nationalratswahl abgibt. Für seinen Vorschlag, Menschen, bei 100.000 Euro Jahresverdienst mit der Steuerprogression aufzuhören, hätten sie ihm in den USA mindestens den Pulitzer-Preis überreicht, wenn nicht die Führung der Republikanischen Partei angeboten. Zumindest der Beifall des Weltretters Friedman wäre ihm sicher, und das ist mehr, als jeder österreichische Politiker sich erträumen darf.
Missionar Stronach fliegt in kurzen Abständen aus Liebe zu seinen Gäulen und seiner Steuererklärung in die USA. Im großen Weltsanatorium fliegen ihm die therapeutischen Ideen zu, mit denen er das kleine unglückliche Österreich kuriert. Manchmal assistiert ihm ein Auserwählter wie Andreas Treichl. In der „Presse“ (24. 3. 2013) stattete der Banker das Publikum mit dem Bonus eines Beitrags über das Missverhältnis von „Freiheit und Gleichheit“ aus, das „wir“ lösen müssen, meint Treichl. Die Freiheit werde von den Schulden eingeschränkt, mit der eine staatlich verordnete Gleichheit bezahlt wurde, bilanziert Treichl. Finanzkrise? Gier? Kriminelle Banken und Banker? Massenverelendung durch Sparpolitik? Treichl verliert kein Wort darüber.
Mit dem US-Befindlichkeitsdiagnostiker Friedman und Stronach ist Treichl offenbar einer Meinung: Die liberale Demokratie könne nur an der Wirtschaft genesen. Der britische Politikwissenschafter Colin Crouch hat die Sache in seinem Buch „Postdemokratie“ (2004) dargelegt. An die Stelle der Idee der klassischen Demokratie, in der gleichen Bürgern gleicher Einfluss auf die Politik zugestanden und die Politik als der große Regulator des Allgemeinwohls angesehen und respektiert wird, tritt der Gedanke, dass es allen gut gehe, wenn es der Wirtschaft gut gehe. Mitglieder der Wirtschafts- und Meinungselite beeinflussen im Namen der Unternehmen oder zumindest ihrer Interessen den öffentlichen Diskurs und die Politik. Die Staatsbürger gehen zwar noch zur Wahl, aber ihr Interesse an den politischen Vorgängen und ihr Einfluss auf die Regierungen schwindet. Auf dem Rücken und in den Kulissen der repräsentativen Demokratie bildet sich eine privilegierte, herrschende Schicht, die feudalistische Verhaltensweisen zeigt. Die Umverteilung nach oben („Bankerboni“) wird meist bloß mit moralischen Argumenten diskutiert, jedoch, so Crouch, nicht als folge des fundamentalen politischen Gestaltwandels thematisiert.
Friedman und Seinesgleichen ergänzen das Elitenpprogramm um den US-Chauvinismus. In der Welt, die von den USA geschaffen wurde, fiel Gottes eigenes Land leider zurück, meint Friedman. Überholt von China, das ein höheres Wachstum schafft, und von Europa, wo in vielen Ländern die ärztliche Versorgung kein Privileg der (Besser)Verdienenden ist und ein Hochschulstudium nicht unzählige Studenten zu Kreditkrüppeln macht. Friedman hat selbstverständlich das Rezept parat, den kranken Mann Amerika und damit die Welt zu heilen: der Markt wird es machen.
Über Killerdrohnen, deren Geschosse US-Präsident Barack Obama wie Aspirin vom Himmel regnen lässt, sagt Friedman übrigens nicht viel. Und wenn schon. Heilung tut manchmal ein bisschen weh.