Aufstieg und Fall des Lance Armstrong erzählen von der Gier und der Behinderung des Menschen durch seinen Körper
Die Geschichte von Lance Armstrong ist die Geschichte eines Behinderten, der mit allen Mitteln die Grenzen seines Körpers überschreiten will. Der Amerikaner hat von 1999 bis 2005 sieben Mal hintereinander die Tour de France gewonnen und wird als eines der größten Sportidole der Menschheitsgeschichte verehrt. Vor kurzem wurden ihm wegen des Verdachts, er habe unerlaubte chemische Hilfsmittel verwendet, von der US-Anti-Doping-Agentur USADA sämtliche Titel aberkannt. Armstrong (40) hatte es abgelehnt, sich vor dem Schiedsgericht der USADA zu verteidigen. Er wurde außerdem lebenslang gesperrt. Sollte er freilich ein Geständnis ablegen, könnte die Sperre verkürzt werden. Angesicht der begrenzten Karriereaussichten eines 40jährigen kein überzeugendes Angebot.
Armstrong wurde hunderte Male auf Doping getestet. Nie wurde eine verbotene Substanz in seinem Körper nachgewiesen.Das Verfahren gegen Armstrong stützt sich auf Indizien und Aussagen von Zeugen, unter ihnen ehemalige Teamkollegen, die den Amerikaner bei der Verwendung illegaler Substanzen beobachtet haben wollen.
Armstrong scheint der legendäre US-Steuerfahnder Jeff Novitzky zum Verhängnis geworden sein, wie der deutsche Aufdeckungsjournalist Jens Weinreich in seinem Blog schreibt. Als die öffentlichen Gerichte Armstrongs Akte schlossen, ermittelten die USADA und Novitzky weiter, bis sie die Wahrheit gefunden hatten. Armstrong verliert auch seine olympische Bronzemedaille, hingegen darf der deutsche Doper Jan Ullrich seine Medaille von Sydney behalten. Dopingverfahren sind selbst seit jeher mehr als fragwürdig. Der US-Sprinter Carl Lewis wurde überführt, 1988 in Seoul im besten und schmutzigsten 100 m-Finale der Geschichte Stimulantien verwendet zu haben. Die US-Olympiabehörde sprach Lewis vom Vorwurf frei, gedopt zu haben. Lewis erhielt statt des Betrügers Ben Johnson (Siegerzeit: 9,79!) die Goldene. Johnson hatte wahrscheinlich bloß das Pech, Kanadier zu sein.Armstrong mag in der Diktion des internationalen Sportgerichtshofs ein Dopingbetrüger sein. Selbstverständlich gilt die Unschuldsvermutung. Er ist gleichzeitig der größte Asket der vergangenen 20 Jahre. In seinem 2009 erschienenen Essay „Du musst dein Leben ändern“ hat der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk den Angelpunkt der Moderne herausgearbeitet, an dem die Gier des Höchstleistungssportlers, die Paralympics und die Aufklärung zusammenhängen: der Mensch ist ein Übender. Die Religionen haben als Orientierungssysteme ausgedient, sagt Sloterdijk – er geht noch weiter und behauptet, Religion gebe es gar nicht, aber das ist ein anderes Thema -, seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zeige der Sport, wohin die Reise des Menschen gehe. Er erschaffe sich nicht mehr Götter, sondern durch Training sich selbst. Der „Selbstdressur“ seien prinzipiell keine Grenzen gesetzt, so Sloterdijk. Die Trainersprache ist das neue Kirchenlatein, der Sport das Ergebnis einer seit dem 19. Jahrhundert laufenden Enspriitualisierung der Askese.
Die Eröffnungsfeier der Paralympischen Spiele bot die Show zum Buch. Als Stichwortgeber schwärmte Stephen Hawking vom homo sapiens, der die grundlegende Ordnung der Dinge verstehen wolle. Hawking: „Auch wenn wir eine vollständige Theorie von allem finden, ist sie doch nur ein Satz von Regeln und Gleichungen.“ Also nichts, was der Mensch nicht verstehen könne.
Die Feier des Menschen als Schöpfer seiner selbst in Form der Paralympics versetzt in London derzeit die Massen in Ekstase. Das hatte der Begründer des modernen Olympismus, der französische Adelige Pierre de Coubertin (1863 – 1937), wohl im Sinne, als er eine Religion des Sports begründen wollte. Er ist gescheitert, als der Olympismus nur eine, wenn auch beispielhafte, Form der Wettbewerbswirtschaft darstellt. In dieser Kombination aus Moderne und Schwärmerei für den Hellenismus ist schon aus pragmatischen Gründen kein Platz für Transzendenz. Doch das Experiment ist insofern geglückt, als der Sport einer Religion gleich die Anbetungsmassen in sein rituelles, vom Alltag durch klare Linien und Regeln getrenntes, Feld holt.
In diesem Kontext begreift sich gerade der begabteste Athlet als der grundsätzlich Behinderte. Kein Wunder, dass ausgerechnet er mit den radikalsten Mitteln die „natürlichen“ Grenzen überschreiten will. In der Sprache der Anti-Doping-Bewegung und der Sportethiker wird diese Haltung des „Gewinnens mit allen Mitteln“ als den Werten des Sports entgegengesetzt mit Strafen belegt. Wie sollen auch Eltern ihre Sprösslinge zu planvollem und potentiell grenzenlosem Üben und Ehrgeiz anhalten, wenn sie um deren Gesundheit fürchten müssen?
Hier liegt der Grundwiderspruch des Sports. Er fordert die radikale selbsterhöhung des menschen und bestraft gleichzeitg den, der diese Forderung ernst nimmt. Tatsächlich nimmt die globale Eventkultur des Sports auf nichts und niemanden Rücksicht, außer auf ihre Bilanzen. Anti-Doping-Unternehmungen und andere Fairnessprogramme dienen bloß als Feigenblatt, um an Kinder und öffentliche Förderungen zu kommen. In diesem Sinne hat sich das Individuum Lance Armstrong als moderner Mensch in seiner Aufgabe, sich selbst neu und besser zu erschaffen, radikal ernst genommen.
Wer Lance Armstrong die Alpen hinaufklettern sah, wird das nie vergessen. Das kann kein Gericht und keine Anti-Doping-Agentur ungeschehen machen. Das Unmögliche ist nicht genug, der Übermensch ist das Maß aller Lebenden. „Wohin gehen wir?“ Armstrongs Beispiel zeigt, dass Sport keine bürgerliche, angenehme oder moralische Lösung der Grundfrage des Menschen bereit hält.