Der menschliche Makel

Der Einsatz von Torkameras im Fußball ist eine aus der Sehnsucht des Menschen nach Perfektion und absoluter Gewissheit geborene Scheinlösung, mit der die Integrität des Spiels auf dem Feld zerstört wird

FIFA-Präsident Sepp Blatter hat also die Implantierung technischer Hilfsmittel genehmigt. Torkameras werden die zwei unnötigen FIFA-Bewerbe Club-WM 2012 und Confederations Cup 2013 überwachen, bevor sie bei der WM 2014 in Brasilien für Objektivität und Gerechtigkeit sorgen. Kein Wembley-Tor, keine Diskussion mehr, ob wie bei der WM 2010 den Engländern (im Spiel gegen die Deutschen) ein Tor „zu Unrecht“ aberkannt wurde oder sie von einem Tor-Pfiff „zu Unrecht“ verschont wurden.

Die „Objektivität“ zieht in den Fußball ein. Das TV-Publikum kennt sie schon längst von Tennis und Eishockey. Im Wimbledon-Semifinale zwischen Roger Federer und Novak Djokovic lieferte die Hawk-Eye genannte Technologie grafische Auflösungen von Bällen, die gerade noch die Linie angerissen hatten. Ein menschliches Auge kann solche Grenzfälle nicht zweifelsfrei erkennen. Im Fußball wird künftig die Kamera von Hawk Eye oder der mit einem Chip ausgestattete Ball (GoalRef) eingesetzt. Die Wahl des Systems obliegt dem Veranstalter. Der Schiedsrichter kriegt ein Signal, sobald der Ball die Torlinie überschritten hat. Er entscheidet, ob er das Tor gibt oder nicht.

Die Halbherzigkeit der FIFA eröffnet Möglichkeiten der Spielemanipulation und Fehlurteile. Doch das grundlegende Problem liegt liegt woanders. Mit digitaler Technologie wird von außen in das komplexe Geschehen auf dem Feld eingegriffen. Die abgeleitete Wirklichkeit stülpt sich über die Wirklichkeit auf dem Spielfeld und wird zumindest im Tor, das ja den heikelsten Punkt darstellt, zur Richterin erklärt. Damit wird ein für alle Mal die Entscheidungshoheit der Schiedsrichter außer Kraft gesetzt. Wenn Schiris selbst und ÖFB-Präsident Leo Windtner die Entscheidung des FIFA-Regelkomitees begrüßen, muss man ihnen entgegen halten, dass sie die Folgen dieses ballesterischen Paradigmenwechsels nicht bedenken und sich aus der Verantwortung stehlen.

Im Unterschied zum Tennis ist der Schiedsrichter in einem Fußballmatch ein integraler Bestandteil des Geschehens. Er entscheidet auf Foul, Abseits, Out und Vorteilsgewährung, er steht mitten im Spielfluss, er lässt ihn laufen und unterbricht ihn. Man muss sich bloß in Erinnerung rufen, wie viele Kicker während der vergangenen Euro ihre Ellbogen ins Gesicht oder Genick der Gegner gestoßen haben um zu erkennen, wie groß und wie fundamental der Ermessensspielraum der Referees ist. Die persönliche Anwesenheit am Tatort stattet Schiedsrichter mit ihrer unangreifbaren Autorität aus. Jetzt wird sie perforiert, und zwar im Namen der Objektivität. Dasist nicht lächerlich.

Fairness, Ausgewogenheit und Chancenparität sollten in einem Match hingegen selbstverständlich sein. Die FIFA hat dem populistischen Schrei nach absoluter Gerechtigkeit nachgegeben. Sie ist vor den TV-Sendern eingeknickt, die ein oberflächliches, uneinlösbares Bedürfnis nach Gerechtigkeit wecken und befriedigen wollen. Der Tatort ist  nicht mehr der Sechzehner, sondern der Bildschirm. Die Dramaturgie von Fernsehfilmen und –serien gaukelt einfache, endgültige Lösungen von fundamenntalen Problemen vor. Ein komplexes Spiel wie der Fußball lebt zwar auch von dieser Illusion („die Wahrheit liegt auf dem Platz“), aber sein Charme liegt auch im Rätsel, das er verspricht und manchmal hält. Der Fußball ist ein Spiel mit dem menschlichen Makel der Nicht-Perfektion alles Tun und Lassens. Die nun einsetzende Objektivität ist eine Fata Morgana. Sie gaukelt dem nach Wahrheit Dürstenden einen Ort vor, in dem er sein Bedürfnis befriedigen könne. Doch dieser Ort ist bloß ein digitales Spiegelbild und die Hand, die danach greift, fährt ins Leere.

 

 

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