HANNES UND ICH V

DIE EURO UND DER TRÜGERISCHE LÄRM

Als Dimitri Payet das 2:1 für Frankreich schießt, explodiert Pertuis. Zwei Kinder laufen aufgeregt über den Hauptplatz. In der Pizza-Tapas-Pastis-Bar blasen ein paar in den französischen Nationalfarben geschminkte Fans und der Kellner im italienischen Team-Trikot in ihr rotes Pfeiferl. Ein Papa, der das Match hypernervös verfolgt hat, umarmt seinen sichtlich erleichterten Sohn. Eine halbe Stunde später räumt das Barpersonal den Schanigarten auf, der Beamer ist abgeschaltet, die Leinwand ist nur mehr Leinwand. Der Ort gleitet unaufgeregt in die erste Nacht der Europameisterschaft. Fußball ist für die Menschen hier wieder nur Fußball, eine Beschäftigung oder bloß eine abendliche Ablenkung von den wichtigen Inhalten: Wein, Garten, Musik, Kulturfestivals, Abendessen.

Die Menschen hier im Luberon, einer Gegend der Provence, nehmen die Europameisterschaft mit Gelassenheit. In der Programmbroschüre „Agenda“ stehen hunderte Aktivitäten, die den Sommer über hier geboten werden. Über die Euro steht nichts drinnen. Im „Cafe Bleu“ in La Bastidonne antwortet Madame Noémie Francone, die Besitzerin, auf die Frage, ob sich die Menschen hier für Fußball interessieren, man werde sich die Spiele im Fernsehen anschauen.

In jedem Beisl, jeder Bar, jedem Restaurant läuft auf den Flatscreens das Euro 2016-Animationsprogramm auf vollen Touren. Die Zeitung „La Provence“ scheint nur aus Euro-(Vor)Berichten zu bestehen. Zwar werden auch Handballer und Basketballer interviewt, aber nur über die Euro. Frankreich, so scheint es, hat die Euro nötig, nur geht sie an den Menschen am Land vorbei.

Selbst in Mallemort wirkt die Begeisterung über das Turnier und die Gäste aus Österreich ein wenig bemüht, höflich, pflichtbewusst, freundlich. In ein paar Auslagen hängen vom Tourismusbüro verteilte Grußplakate an die „Autrichiens“, zum öffentlichen Training von Marcel Kollers Mannschaft kamen 500 Zuschauer. Im Cafe de la Poste, der größten Bar des Ortes, sitzt sogar ein Vertreter der Security und meditiert in die stille Straße hinaus. Daneben liegt das Tourismusbüro, in dem man sich über die blutrünstige Vergangenheit des Ortes informieren kann. Mallemort ist in einem leicht absurden Sinn geweihter Boden, hier schlachtete der örtlichen Legende zufolge der römische Feldherr Marius die widerspenstige Einheimischen, worauf die Überlebenden ihre Gegend „blutige Hügel“ tauften. Mitte des 16. Jahrhunderts begann in Mallemort die Verfolgung der Waldenser, einer religiösen Splittergruppe, die man auch als Protestanten vor der Reformation durch Martin Luther (1483 – 1546) charakterisiert hat.

Die historisch gewachsene Stille von Mallemort wird sich durch Österreichs Nationalteam nicht aus der Ruhe bringen lassen. Die Euro ist eher ein Fest der Medien und der Städte. 60 Kilometer südlich von Pertuis tumultieren in Marseille englische Fans, wetteifern mit Russen im Saufen, Schreien und Bierdosenwerfen und dürfen darauf vertrauen, dass die Einheimischen und die Sicherheitskräfte mit ebensolcher Aufgeregtheit antworten. Andere Russen von offenbar ruhigerer Fasson kosteten sich am Freitag im Weingut „La Dorgonne“ durch das Sortiment der Erzeugnisse aus den biologisch gezogenen Trauben. Wer nach einem anstrengenden Degustationsnachmittag nicht mehr Autofahren will, kann das entzückende Landhaus (für Gruppen bis zu 14 Mitglieder, also eine Mannschaft mit kleinem Betreuerstab) mieten. Und wenn einem nach leicht verdaulicher Aufregung ist – Fernseher haben sie da drin sicher in genügender Anzahl.

Nicht nur in der Provence betrachten die Menschen die Euro mit großer Gelassenheit, wahrscheinlich in ganz Frankreich, mit Ausnahme der großen Städte. Ein Vermieter von Fremdenzimmern in Avignon beklagt, dass die Euro-Spiele der Franzosen im Free-TV zu sehen seien, für alle anderen müsse man zusätzlich Geld auf den Tisch legen. Die Berichte von den gewalttätigen Banden aus Russland, England und Deutschland trägt auch nicht zur Appetitsteigerung auf ein Fest bei, das dem Land horrende Summen kosten wird. Die Medien baden geradezu in den Berichten von den Hooligans, die mit ziemlicher Sicherheit keine Hooligans, sondern Rechtsradikale, Ultranationalisten, vom Arbeitsmarkt Ausgegrenzte und Mitglieder von mafiaähnlichen Banden sind. Hooligans, also gewalttätige Fußballfans, sind mittlerweile im Gewaltspektrum rund um die Fußballstadien die Ausnahme. Wie Russland sich des Propagandainstruments des Dopings angenommen hat, so bedienen sich Splittergruppen  der Bühne des Fußballs, um ihre Botschaft der Öffentlichkeit reinzuprügeln. Zeitungen und TV-Sender obliegen beflissen mit Scheinwerfern und Reportagen, Berichte aus dem stillen Teil des Euro-Landes finden keinen Platz, ein anschwellender Bocksgesang von der Brutalität des Fußballs lässt alle anderen Inhalte untergehen.

Hier nicht, hier hören sie von Hannes und mir weiterhin von unserer Reise auf der anderen Seite der Kugel, die angeblich die Welt bedeutet.

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