Vom Hingreifen zum Übergriff

Sexueller Missbrauch: Tatort Sport, Prävention Sport

Ist der Sport ein geeignetes Feld, um das Bewusstsein gegen die Gefahren sexueller Übergriffe zu entwickeln? „Nein.“ Alfred Pritz, der Rektor der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien begrüßt die beginnende öffentliche Diskussion über das lange Jahre tabuisierte Thema des Missbrauchs in den Kabinen und auf den Sportstätten. Doch, schränkt er ein, Fachleute sollten den Diskurs begleiten. Pritz: „Sexualerziehung lässt sich nicht über den Sport abwickeln, das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.“

Auf der Abschlusskonferenz der europäischen Initiative „Sport respects your rights“ Mitte Februar im Wiener EU-Haus besprachen Fachleute mit Funktionären und Mitgliedern von zehn Sportorganisationen aus sechs Ländern Maßnahmen zur Verhinderung und Prävention gewalttätiger Entgleisungen. Die SPORTUNION fungierte als Gastgeber. Sie hat Anfang des Jahres das Thema Gendersensibilität und Prävention von Missbrauch in ihr Curriculum für die Basisausbildung zum Übungsleiter und bis hinauf zum staatlichen aufgenommen.

Was in Europa fehlt: empirische Untersuchungen über die Häufigkeit und Art der Übergriffe. Auch der Präsident der Sportunion, Hartwig Löger, kennt auf Befragen keinen einzigen Missbrauchsfall in seinem Verband. Vertrauensleute und Instanzenzug fehlen. Löger: „Jeder Missbrauchsfall ist einer zu viel.“

Bettina Rulofs, stellvertretende Abteilungsleiterin für Sportsoziologie an der renommierten deutschen Sporthochschule Köln, fordert daher „dringend empirische Studien über das Problem des sexuellen Missbrauchs im Sport.“ Leider sei das Thema noch weitgehend tabu. Während die Übergriffe von Priestern der katholischen Kirche längst weltweit diskutiert werden, scheue man in Europa noch davor zurück. Andernorts herrscht mehr Offenheit und Redlichkeit. Rulofs: „Für Australien oder Kanada gibt es sehr wohl einschlägige Studien und belastbare Zahlen.“

Ohne körperlichen Kontakt funktioniert Sport nicht, beispielsweise das Sichern der Übenden durch erwachsene Trainer. Rulofs: „Und oft sind die Grenzen zum Übergriff fließend. Auch deswegen müssen wir genau hinschauen.“

Die Beschäftigung mit der Sache ist freilich nicht neu. Der ASKÖ rief 2005 die Initiativen „call4girls“ und call4boys“ ins Leben. Er verteilt die Informationsbroschüre „Bei uns doch nicht“ (1. Fassung 2012), in der Wiens Sportstadtrat Christian Oxonitsch darauf hinweist, dass sich Schlagzeilen über sexuelle Vergehen von Trainern an Schützlingen „in letzter Zeit häufen“. Und führt einen „Sex-Prozess gegen Ex-Trainerin, die mit ihrem Schützling (13 Jahre alt) schlief“ aus 2010 und einen Vorfall aus 2009 an: „Trainer verging sich an Buben: Acht Jahre Haft.“

Die Broschüre listet unter der Überschrift „Prävention mit Kindern und Jugendlichen“ einige eher allgemeine Rechte und Prinzipien auf, unter anderen Gefühlserziehung, Körperbewusstsein und die Unterscheidung von angenehmen und unangenehmen Berührungen, ganzheitliche Sexualerziehung, Unterscheidung von guten und schlechten Geheimnissen und das Recht auf Nein und Grenzsetzung. Anschließend wird eine Einführung in die Gesetzeslage, die kindliche Sexualität und die „Dynamik, die hinter sexuellen Übergriffen stehen“ geboten.

Der Umgang von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen zwischen Kabine, Übungs- und Wettkampfstätte ist weitgehend als Autoritätsverhältnis definiert. Falls der Erwachsene es ausnützt, wird die Sache strafbar (§212 Absatz 1 Strafgesetzbuch). Liegen sexuell motivierte Handlungen vor, kommen § 206 oder 207 zum Tragen. Der Strafrahmen reicht in schweren Fällen bis zu zehn Jahren Haft.

Familienministerin Sophie Karmasin wies vor der Tagung im Februar darauf hin, dass die Zahl der Beschwerdefälle bei den Beratungsstellen steige. Karmasin: „Vor 25 Jahren wurde der Schutz vor Gewalt in die Verfassung aufgenommen. Und die Kinderrechte in die UN-Konvention.“ Diese Rechtsgüter gelte es zu schützen. Einschlägige Studien zeigten, so Karmasin, dass jeder zweite Jugendliche mit unsittlichen Avancen konfrontiert werde. Auch deshalb investiere der Bund „einen zweistelligen Millionenbetrag“ in die landesweite Familienberatung.

Das Problem scheint sich zu verschärfen. Der prominenteste Fall ist wohl der des Doppelolympiasiegers (1984, 1988) im Judo, Peter Seisenbacher. Die Staatsanwaltschaft Wien bestätigt laufende Ermittlungen wegen angeblichen Missbrauchs und schweren Missbrauchs von Unmündigen. Es gilt selbstverständlich die Unschuldsvermutung.

Der Verein Selbstlaut bat im November 2012 zu einer Fachtagung unter dem Titel „Macht.Sexualität.Was?“ im Wiener Europahaus. Selbstlaut ist ein Teil des Wiener Netzwerkes (http://www.wienernetzwerk.at/) gegen sexuelle Gewalt an Mädchen, Buben und Jugendlichen. Die Tagung kreiste um „krisenhafte Männlichkeit“, die Sexualerziehung in Schule und Familie oder Prävention in Institutionen. Als Referenten dienten externe Experten wie Sibylle Hartl vom Münchner Institut zur Prävention von sexuellem Missbrauch.

In der 2007 von Rulofs redigierten Broschüre „Schweigen schützt die Falschen“ des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen wurden Opfer sexueller Gewalt danach gefragt, woher denn die Täter kamen. 3,8% gehörten der Gruppe „Betreuungspersonen/professionelle Helfer“ an. In diese Gruppe ressortieren Bezugspersonen aus dem sportlichen Umfeld. „Grob überschlägig berechnet“, so Rulofs, hieß das, dass „bundesweit rund 135.000 Personen sexuelle Gewalt zwischen dem 16. und dem 85. Lebensjahr“ in einem sportlichen Umfeld erlitten. Laut Rulofs lasse die Überschlagsrechnung wissenschaftlich-empirische Studien erst recht als dringend wünschenswert erscheinen.

Sport, sagt der Psychiater und Psychotherapeut Pritz, sei eben eines der Felder, in denen es „prekär werden kann, wie in der Familie oder bei der Kultausübung“. In Bereichen also, wo es zu sehr „persönlichkeitsnahen Beziehungsgeschichten kommt“. Pritz: „Man weiß ja von Übergriffen bei Skirennfahrerinnen und ihren Trainern, die vor Jahrzehnten passiert sind und auf die leichte Schulter genommen wurden.“ Immerhin werde das Problem endlich öffentlich thematisiert. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit der Psychotherapie und der Möglichkeit, „offen und ohne Angst, psychiatriert zu werden“, kommen auch Missbrauchsfälle öfter im therapeutischen Gespräch zutage. Was die Hoffnung steigert, dass die Zahl der Übergriffe zurückgehe. Pritz: „Je öffentlicher es wird, desto kleiner wird das Problem. Wie im Fall der katholischen Kirche, wo seit Jahren diskutiert, Schadenersatz gezahlt und Verhaltensrichtlinien verfasst werden.

Glaubt der Psychotherapeut Pritz, dass sportliche Tätigkeiten und Institutionen für die moralische Aufrüstung der Gesellschaft geeignet seien? Pritz: „Nein, dafür ist er nicht geeignet, aber für die körperliche Aufrüstung.“

INFO

Die Wiener Landesregierung hat wie jede andere eine Kinder und Jugendanwaltschaft eingerichtet, die besonders die Interessen von Minderjährigen wahrt. Link: http://www.wienernetzwerk.at/cutenews/home.php?go=jugendanwaltschaft

Sportunion-Übungsleiter werden seit Anfang 2015 auch auf Gendersensibilität und Prävention von Missbrauch geschult.

 

 

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