Der Skisport frisst seine Kinder

Marcel Hirschers Einfädler zeigt das Grundproblem des Skiweltcups auf: der Rennsport droht auf Eispisten und zwischen Kippstangen das Skifahren zu verlernen
Der Skirennsport ist Kapitalismus in Reinkultur. Liberales Gedankengut, Wettbewerb und klare Regeln machen aus der Kulturtechnik Slalom – 1905 organisierte Mathias Zdarsky auf dem Muckenkogel den ersten Bewerb – eine Massenbewegung und ein Business. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Schnee begrabene Alpentäler blühten dank der Brettln auf. Die Einfädleraffäre markiert nun nicht etwa individuelle Probleme Marcel Hirschers, sondern den Wendepunkt einer problematischen Entwicklung. Die Frage ist nämlich, ob Mediengläubigkeit und vor allem das Diktat der Ausrüster weiterhin die Wettkampfbedingungen radikalisieren dürfen.
Bevor 1981/1982 die Kippstangen die starren Torstangen ablösten, arbeitete der Ex-Skirennläufer und Fritz Köhler für divere Skifirmen (Kästle, Atomic, Head). Er studierte Sportwissenschaften und konnte als Erster am Institut „Suite: Judy Blue Eyes“ von Crosby, Stills & Nash spielen. Für Firmen experimentierte er mit Skiradien und Bindungsplatten und formulierte die einschlägigen FIS-Vorschriften mit. Vom Ski-Establishment, so erzählt er, wurden die Kippstangen erst einmal  – „brauch ma net“ – abgelehnt und ein paar Jahre später von der Industrie durchgesetzt. Die Firmen ließen weitere Neuerungen folgen: die Vereisung der Pisten, die drastische Verringerung des Skieigenradius (Carving-Ski), die Bindungsplatte über der dafür eigentlich zu schmalen Skimitte. Die Läufer fahren längst nicht mehr um die Stange herum, wie es das FIS-Reglement vorschrieb, sondern mit dem Schienbein über und mit dem Schwerpunkt außen um die Stange. Regelbrüche, so Köhler, sind oft nicht mehr festzustellen.
Als in der Saison 1981/1982 die Kippstangen im Skiweltcup eingeführt wurden, reduzierte sich allerdings die Häufigkeit und Schwere der (Seitenband)Verletzungen, sagt Kurt Hoch. Er coachte die ÖSV-Abfahrer und organisierte anschließend ein Jahrzehnt lang den Weltcup der Damen. Die Skier und pickelharten Pisten erlaubten immer schnellere, spektakulärere, besser verkaufbare Schwünge und Rennen. Leider sind scharfe, verwindungssteife Carving-Latten und hohe Kurvengeschwindigkeit eine tödliche Gefahr. Kein Mensch fordert jetzt die Rückkehr der starren Stangen, aber die Kurvengeschwindigkeiten müssen gesenkt und die Skiradien vergrößert werden, da sind sich Köhler und Hoch einig.
Vor der FIS-Karriere arbeitete Kurt Hoch im Mekka des alpinen Skisports, dem Bundessportheim St. Christoph unter dem Skipapst Franz Hoppichler als Chefskilehrer. Hoppichler lehrte in den 70ern das bis heute gültige Prinzip des Skilaufs, die „neutrale“ Stellung über der Skimitte, und belegte den Studenten die Theorie mit Fotoreihen von Franz Klammer und dessen in jedes Gelände passende Skitechnik. Carvingskier muss man auf glatten Eispisten bloß „umlegen“, richtig Skifahren zu lernen erübrigt sich. Statt die Kinder ins Gelände, die Buckeln, den Tiefschnee und zum freien Skilauf zu schicken, lässt man sie vereiste Hänge hinunter und lehrt sie „links-rechts-Umfallen“.  Der Aufwand ist enorm, und der Verschleiß, vor allem am Rückgrat der Jugendlichen. Müssen sie im Wettkampf Rinnen oder gar Weichschnee (also kein Eis) bewältigen, sind sie hilflos. Ihnen fehlt die vielfältige Bewegungserfahrung, die Problemlösungskapazität, schlicht: die Skitechnik.
Ausgerechnet Hirscher beherrscht sie vollkommen – wie Ivica Kostelic übrigens. Hirschers bewegungsbereite Fahrweise ist der Lohn vieler Tage freien Skilaufs. Er fährt wahrscheinlich zu gut Ski für die merkwürdigen Wettkampfbedingungen im Skiweltcup. Wahrscheinlich ist er gerade deshalb, und darin erinnert er nun tatsächlich an Hermann Maier, der Umsatzbringer eines Systems, weil er dessen Fragwürdigkeit repräsentiert.

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